Über die Entstehung der Theelacht zu Norden

Was ich nun erzähle, das ist gewiss die Wahrheit. Und was die Wahrheit ist, das ist seit 1585 schriftlich überliefert. Vorher wurde die Geschichte in den Familien mündlich weitergegeben. Rund 700 Jahre lang. Denn der Beginn der Theelacht zu Norden wird auf das Jahr 884 festgelegt.

Und das kam so:
Damals hatten die Friesen schon viele Jahre unter den Normannen zu leiden. Diese stammten aus dem heutigen Dänemark, Schweden und Norwegen. Die Friesen nannten sie „Nordmänner“. Nicht nur die Küstenregionen wurden von den einfallenden Horden heimgesucht, sie drangen über die Flüsse auch weit in das Binnenland hinein, zum Beispiel bis nach Köln. Anfangs kamen sie als Kaufleute und Händler. Aber dann änderte sich das Bild. Mit vielen schnellen Schiffen wurden große Scharen von Kriegern an die Küsten gebracht. Von hier drangen sie weiter in das Binnenland vor, sobald sie sich einen sicheren Stützpunkt geschaffen hatten. Wer sich den angreifenden Kriegern entgegenstellte, wurde ohne Gnade niedergemacht. Was die Menschen nicht freiwillig hergaben, wurde ihnen einfach weggenommen. Die Normannen schlugen die Menschen tot, brachten Schande über die Frauen, setzten alles in Brand. Wer sich den Normannen nicht beugte, den zwangen sie, einen Ring aus Weidenästen um den Hals zu tragen, damit sie ihn, wann immer sie wollten, am nächsten Baum aufhängen konnten. Geiseln wurden schlimm behandelt. Thielmar von Merseburg berichtet darüber, dass die Normannen in Stade 994 allen Gefangenen die Hände abgehauen und Nasen und Ohren abgeschnitten haben. An der Küste erinnerten sich die Menschen über Jahrhunderte an die schlimmen Zeiten. Die Normannen kamen immer plötzlich, raubten, was sie gebrauchen konnten, und zogen weiter. Sie fielen nicht nur in Friesland, sondern im ganzen westlichen Europa ein, bis hin zu den Britischen Inseln. 845 zerstörten sie Hamburg. 880 fuhren sie mit ihrer Flotte die Elbe aufwärts und schlugen die Sachsen. Ostfriesland gehörte unterdessen längst zum Frankenreich. Wegen der Normannen brauchten die Friesen allerdings nur in ihrem Stammesgebiet Heerfolge zu leisten.Es war sehr wichtig, die Normannen möglichst schon an der Küste abzuwehren (aufzuhalten).Kein Friese durfte länger von seinem Haus weggehen, als dass er bis zur nächsten Tide wieder zurück sein konnte. Denn nur mit der Flut war es den Normannen ja möglich, aus der offenen Nordsee über das Wattengebiet an die Küste zu gelangen. Auch das Christentum hatte schon auf das ostfriesische Gebiet übergegriffen. Der westliche Teil unterstand dem Bistum Münster, der östliche und nördliche dem Bistum Bremen. Ein kleiner Teil im Süden gehörte zum Bistum Osnabrück. Das Gebiet um Norden, das zunächst zu Münster gehörte, war, als die Leybucht bis nach Norden vordrang, dem Bistum Bremen zugeschlagen worden. Dort war um 865 Rembertus als Bischof. VonZeit zu Zeit musste er in den Kirchen seines Bistums Sendgericht halten. So kam es, dass er 884 in Norden weilte. Für die Menschen im Norderland war das eine gute Gelegenheit, zu den Gerichtstagen zusammen zu kommmen. Sie konnten sich beraten, Anführer wählen und sich auf einen Krieg vorbereiten, der die Befreiung bringen sollte.
Sie erzählten dem Bischof von ihrer Not, und der machte ihnen Mut, die Normannen mit Gewalt loszuwerden. Der Bischof beugte seine Knie auf dem Wall, wo das Gericht tagte. Er betete voller Inbrunst. Das tiefe Gebet wurde für die Menschen deutlich:
Seine Knie waren tief in den harten Stein eingedrungen. Das war ein Zeichen von Gott. Noch heute kann man den Stein auf dem Alten Friedhof in Norden anschauen und die Abdrücke von den Knien wahrnehmen. Mit großem Mut gingen nun die Friesen gegen die Normannen vor. Diese waren wohl in der Übermacht, aber sie hatten keine Chance gegen das Verlangen nach Freiheit.
Obwohl die Männer aus dem Norderland nur Sensen, Dreschflegel und andere Geräte aus der Landwirtschaft als Waffen hatten, bekam ihre Wut und ihr Mut durch den Wunsch nach Freiheit Flügel. Mit dem Ruf „Lever dood as Slaav“ („Lieber tot als Sklave“) fielen sie über die Feinde her. Manche der Normannen retteten sich auf Schiffe. Doch sie wurden von den rasenden Friesen eingeholt und und getötet. 10 377 tote Normannen hat man gezählt. Das alles spielte sich in der Hilgenrieder Bucht, 12 Kilometer von Norden entfernt, ab. Die heute längst eingedeichte Bucht wurde den Männern aus dem Norderland für ihre Verdienste zu eigen gemacht. Das sind die Theellande. Die Kämpfe spielten sich nacheinander in verschiedenen Landstrichen um die Bucht ab. Daher wurden die Sieger auch mit den Theelen belohnt, in denen sie selbst gekämpft hatten. So ist das Erbbauernrecht entstanden, immer mit der den jeweiligen Bauern übergebenen Theele. Es handelte sich um Gemeineigentum der Theelacht, durch deren spätere Verpachtung die Erträge resultierten. Diese Erträge werden von Alters her bei den Frühjahrsausgaben und Herbstausgaben an die berechtigten Erbbauern ausgezahlt. Im Frühjahr, 7 Tage vor Karfreitag, werden die Erträge der Linteler, Gaster, Eber und Hover Theele ausgegeben; im Herbst, am Mittwoch und Freitag in der Woche oder Vorwoche vor Weihnachten, die Ekeler, Neugroder, Osthover und Trimser Theele. Bei den Erbbauern wird nach dem alten friesischen Recht der jüngstgeborene Sohn beerbt. Inzwischen gibt es auch Kaufbauern, deren Familien im Verlaufe der Jahrhunderte Anteile aus Erbbauernfamilien erhalten haben. Diese unterliegen nicht dem Erbbauernrecht. Bei den Kaufbauern wird nach bürgerlichem Recht vererbt. Sie haben wenig Rechte in der Theelacht. Das aktive und passive Wahlrecht steht ihnen nicht zu. Ich habe am Anfang erzählt, dass ich gewiss die Wahrheit über die Entstehung der Theelacht sagen würde. Die Wahrheit aber ist, dass es keine Wahrheit gibt. Wie die Theelacht entstanden ist, verschwindet im Nebel der Sage und Überlieferung. Wir wissen von mündlichen Weitergaben, dass sie oft ausgeschmückt und glorifiziert werden. Dennoch wird ein Körnchen Wahrheit daran sein. Das sagt auch die Wissenschaft, die mehrfach über die Theelacht geforscht und berichtet hat. Wenn vielleicht auch andere Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, so gehen sie doch immer wieder auf die Normannen an unserer Küste zurück. Ich habe keinen Grund, diese Erzählung wirklich in Zweifel zu ziehen. Ohne letzte Beweise zu haben, ist die Geschichte der Theelacht eine interessante und aufregende Geschichte, die man gerne hört weiter erzählt.

Von Dr. Hans-Hermann Briese

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